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by @PBahners view original on Twitter
Mein Opa ist im Mai 1940 in Frankreich gefallen. Meine Oma war mit meiner Mutter schwanger. Zuvor hatte Opa eine steile Karriere im Reichsjustizministerium hinter sich, in das er als Hamburger Richter abgeordnet war.
Später war Opa für Oma eine Art Heiliger: Sein Foto in Uniform stand auf ihrer Flurkommode; Oma erzählte gerne und unaufgefordert, daß Opa nie in der Partei, sondern nur in der SA gewesen und überhaupt "immer dagegen" gewesen sei.
Im Ministerium habe er mit Begnadigungen zu tun gehabt. Meine Mutter schnaufte dann verächtlich.
Mir kamen diese Geschichten spätestens in der Pubertät komisch vor.
Nach dem Tod meiner Mutter und meiner Oma habe ich dann eine Anfrage zu Opa an das Bundesarchiv gestellt.
Weil Opa Ministerialbeamter gewesen war, bekam ich seine Personalakten und weiß jetzt genau, was es mit diesen Begnadigungen auf sich hatte.
Zunächst einmal war Opa im Mai 33 in die Partei eingetreten. In der SA war er nie. Warum Oma das erzählt hat, weiß ich auch nicht.
In den Beurteilungen seiner Vorgesetzten wird er als fleißig und klug, aber pathologisch schüchtern beschrieben.
Die Abteilung, in die er im Ministerium abgeordnet war, sollte ein neues, nationalsozialistisches Rechtssystem aufbauen. Dazu ist es dann nie gekommen.
Statt dessen waren sie in der Tat hauptsächlich mit Begnadigungen beschäftigt.
Diese Begnadigungen wurden für SA-Leute ausgesprochen, die in den 30er Jahren von aus dem KZ entlassenen Kommunisten und Sozialdemokraten angezeigt worden waren. Denn für die KZs gab es keine Rechtsgrundlage.
Diese SA-Leute sind deshalb teilweise von Gerichten verurteilt worden. Opas Abteilung sprach dann die Begnadigungen für die Verurteilten aus.
Dieses Nebeneinander von Gesetz und nackter, durch kein Gesetz gedeckter Macht hat Ernst Fraenkel als den "Doppelstaat" (Dual State) beschrieben: im NS-Staat gab es nebeneinander den "Normenstaat", der sich an Rechten orientiert, und den "Maßnahmenstaat", in dem …
… situativ nach Zweckmäßigkeit entschieden wird.
Opa war innerhalb des Normenstaates eine Art Regulierungsinstanz, die das Funktionieren des Maßnahmenstaates garantierte.
Ernst Fraenkel weist in seiner Studie, die erstmals 1941 erschien, darauf hin, daß sich im Zweifel immer der Maßnahmenstaat gegen den Normenstaat durchsetzen kann.
Wie Seehofer im SZ-Interview die Frage nach der Rechtmäßigkeit exterritorialer Ankerzentren wegwischt und nach Maßnahmen ruft, hat mich entsetzt. Er plädiert damit für ein Wiederaufleben des Doppelstaats.
Leider ist es wieder einmal an der Zeit, darauf hinzuweisen, daß der Rechtsstaat eine kostbare Errungenschaft ist und daß das Recht uns alle schützt.
Die populistische Idee, daß Maßnahmen immer nur die anderen treffen, erweist sich in Ungarn gerade einmal mehr als gefährlicher Irrtum, wenn das Regime Orban mit deprimierender Vorhersehbarkeit die Liste der NS-Verfolgten abarbeitet.
Wenn ich heute an Opa denke, frage ich mich, wie er und meine Oma die Verfolgten in der eigenen Familie mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten: Max und Hedwig Voegt, Cousin und Cousine meiner Oma, wurden als Kommunisten im KZ Fuhlsbüttel gefoltert.
Onkel Max kam zu den Geburtstagen meiner Oma; er sprach über fast nichts außer diesen KZ-Folterungen. Die Erwachsenen versuchten, uns Enkelkinder von ihm wegzuscheuchen.
Tante Hedwig ging nach dem Krieg in die Ostzone, studierte Germanistik an der Uni Leipzig und wurde hier Professorin. Ihre Dissertation steht in der Deutschen Bücherei, sie ist gar nicht schlecht. de.wikipedia.org/wiki/Hedwig_Vo…
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Daß Lukas Rietzschels Romandebüt als Erklärungsansatz für rechte Gewalt im Osten herangezogen wird, habe ich schon befürchtet. Vermutlich hat Rietzschel tatsächlich vor, uns die Nazis in der Lausitz zu erklären. Deshalb ist das Buch problematisch - als Roman und als Erklärung. /1
Ein Roman ist ein fiktionaler Text. Er bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern simuliert Wirklichkeit (Welt, Handlungen und Figuren) so, daß sie der textexternen Realität mehr oder weniger ähneln kann. /2 #twitterphilologie #relevanteLiteraturwissenschaft
Dieses Verständnis des Romans ist in einem jahrhundertelangen Prozeß zwischen Autoren, Lesern, Kritikern usw. ausgehandelt worden, und es verändert sich laufend weiter. /3
Das Foto ist zunächst einmal ein Porträt. Es zeigt die Porträtierte im Halbprofil, ein Buch lesend, vor einem Kunstwerk: so will sie gesehen werden. Eine Inszenierung, die wir aus vielen Porträts und Selbstporträts kennen.
Die locker stehende Pose sagt: ich habe Zeit, mich mit Kultur zu beschäftigen, verfüge über ökonomisches und kulturelles Kapital. Die Requisiten weisen mich als gebildet aus. Das alles ist klassische Porträtkunst.