Daß Lukas Rietzschels Romandebüt als Erklärungsansatz für rechte Gewalt im Osten herangezogen wird, habe ich schon befürchtet. Vermutlich hat Rietzschel tatsächlich vor, uns die Nazis in der Lausitz zu erklären. Deshalb ist das Buch problematisch - als Roman und als Erklärung. /1
Ein Roman ist ein fiktionaler Text. Er bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern simuliert Wirklichkeit (Welt, Handlungen und Figuren) so, daß sie der textexternen Realität mehr oder weniger ähneln kann. /2 #twitterphilologie #relevanteLiteraturwissenschaft
Dieses Verständnis des Romans ist in einem jahrhundertelangen Prozeß zwischen Autoren, Lesern, Kritikern usw. ausgehandelt worden, und es verändert sich laufend weiter. /3
Die Spielregeln der Fiktion besagen: ob und wie ein Roman sich auf die textexterne Realität bezieht, muß zunächst einmal textintern plausibilisiert werden. /4
Diese Plausibilität ist aber wiederum eine Einschätzung, die in Lektüren entsteht. Sie wird durch eine Interpretationsgemeinschaft ausgehandelt und bestätigt. Sie kann nicht einseitig behauptet werden. /5
Wer „Mit der Faust in die Welt schlagen" als Erklärung für Rechte im Osten liest, liest den Text nicht als Roman, sondern als Sachbuch. /6
Als Sachbuch ist der Text aber schwach. Er erzählt nichts von rechten Strukturen und Akteuren, sondern von labilen Mitläufertypen, die aus Langeweile zu Nazis werden. /7
In der Sachbuch-Lektüre wird der Text exkulpatorisch: Die Dorf-Nazis in der Lausitz haben gar keine Wahl, es gibt keine anderen Freizeitmöglichkeiten als Nazi-Sein. Warum das Leben in der Lausitz dermaßen trist ist, wird allerdings nicht wirklich deutlich. /8
Das wiederum liegt an der erzählerischen Gestaltung. Um zu verstehen, warum „Mit der Faust in die Welt schlagen“ (was für eine pathetische Titel-Monstrosität übrigens!) als Erklärung nicht funktioniert, muß man die Textästhetik mit beachten. /9
Damit komme ich zur zweiten Lektüre, der Roman-Lektüre.
Rietzschel schreibt eine atemlose Stakkato-Hauptsatzprosa. Die einzige Nebensatz-Art, die sehr gelegentlich vorkommt, sind Relativsätze. /10
Konditional- und Kausalsätze fehlen dagegen vollständig. Schon rein grammatisch macht der Stil des Romans es fast unmöglich, das Handeln der Figuren zu erklären und zu begründen. /11
Statt dessen werden nur die von außen sichtbaren Handlungen der Figuren erzählt und Dialoge wiedergegeben. Durch diese camera-eye-narration bleiben die Gedanken, Gefühle und Motive der Figuren weitestgehend im Dunkeln. /12
Sie werden dadurch allerdings nicht rätselhaft, sondern (und das liegt eben auch an der Schlichtheit der Hauptsatzprosa) vor allem uninteressant. /13
Der binären Code literarischer Kommunikation – das gehört zu den Spielregeln der Fiktion – lautet seit etwa 200 Jahren „interessant“ vs. „langweilig“ (und eben nicht „wahr“ vs. „falsch“). /14
Rietzschels Romandebüt ist vor allem sterbenslangweilig. Und zwar, weil er uns in dürrster Prosa erzählt, was ohnehin jeder weiß: in der Lausitz lungern Dorfnazis an der Bushaltestelle. Zum Gähnen. /15
• • •
Missing some Tweet in this thread? You can try to
force a refresh
Das Foto ist zunächst einmal ein Porträt. Es zeigt die Porträtierte im Halbprofil, ein Buch lesend, vor einem Kunstwerk: so will sie gesehen werden. Eine Inszenierung, die wir aus vielen Porträts und Selbstporträts kennen.
Die locker stehende Pose sagt: ich habe Zeit, mich mit Kultur zu beschäftigen, verfüge über ökonomisches und kulturelles Kapital. Die Requisiten weisen mich als gebildet aus. Das alles ist klassische Porträtkunst.
External Tweet loading...
If nothing shows, it may have been deleted
by @PBahners view original on Twitter
Mein Opa ist im Mai 1940 in Frankreich gefallen. Meine Oma war mit meiner Mutter schwanger. Zuvor hatte Opa eine steile Karriere im Reichsjustizministerium hinter sich, in das er als Hamburger Richter abgeordnet war.
Später war Opa für Oma eine Art Heiliger: Sein Foto in Uniform stand auf ihrer Flurkommode; Oma erzählte gerne und unaufgefordert, daß Opa nie in der Partei, sondern nur in der SA gewesen und überhaupt "immer dagegen" gewesen sei.